Zum Titel Vom Sein des Scheins
Was aber ist mit dem Titel Vom Sein des Scheins gemeint? Hat der Schein sein eigenes Sein, obwohl er doch nur Abglanz von etwas ist? Schon im Germanischen hatte das Wort die Bedeutung strahlen, leuchten, glänzen, woraus sich sichtbar werden, zum Vorschein kommen (erscheinen) entwickelte. Der Schein war demensprechend ursprünglich Glanz und Strahl gleichgesetzt, woraus sich im 15. Jahrhundert die Bedeutungen äußeres Aussehen, Trugbild und – im Sinne von bescheinigen, d.h. einen sichtbaren Beweis erbringen entwickelten (Banknote, Dokument, Beleg). Redensartlich aber ist der Schein nicht manifest, sondern flüchtig: eine Täuschung, ein Trugbild. Er ist nicht die Realität, sondern nur das, was wir von der Realität wahrnehmen wie die Eingeschlossenen in Platons Höhlengleichnis. Aber haben wir etwas anderes als unsere Wahrnehmung? Friedrich Nietzsche befand, „Die scheinbare Welt ist die einzige; die ‚wahre Welt‘ ist hinzugelogen“. In diesem Sinne nimmt Alfons Köhler den Schein selbst als Sein. Ihm widmet der Mensch Unmengen an Lebenszeit, Hoffnungen, Illusionen, Sehnsüchte materieller und ideeller Art. Ein Coaching-Angebot im Internet verspricht Identitätsfindungs-Hilfe auf dem Weg „Vom Schein zum Sein“. In der Redensart „mehr Schein als Sein“ verbirgt sich die ‚menschlich-allzumenschliche‘ Absicht, etwas Besseres, Größeres vorzutäuschen als es die Wirklichkeit hergibt – aber liegt darin nicht ein Grundprinzip eines immer schneller rotierenden, zerstörerischen Turbokapitalismus, der alles zur Ware werden lässt, auch Kunst und Dichtung? Die allgegenwärtige ‚Warenästhetik‘ verkörpert die Welt der Illusionen und den Schein des Schönen in jedem noch so profanen käuflichen Gegenstand, und die einst als rein und zweckfrei gefeierte autonome Kunst wurde längst zum Objekt der Begierde des Kapitals.
Zu den Gedichten
Köhlers frühe Gedichte um 1970 sind Ausdruck von Identitätssuche, Ich-Verortung und Selbstvergewisserung, aber auch ein Abgesang auf politische Utopien, auf Kunst als kritische Widerspiegelung von Gesellschaft und auf das Pathos der Weltveränderung der 1968er und ihrer Folgejahre. Ideologien und Parolen tragen nicht mehr; an ihre Stelle treten Selbstbefragung und Weltbeobachtung in Kunst, Literatur und Dichtung. Längst ist die Zeit der ‚Neuen Innerlichkeit‘ angebrochen, die sich die Welt, wie sie ist, vornimmt und mit dem Ich des Künstlers, des Autors, des Dichters in eine neue, suchende Beziehung setzt. Köhler beginnt mit autobiographischen Erinnerungen (an Kindheit, prägende Personen, Episoden, Jahreszeiten), alltäglichen Beobachtungen, flüchtigen Augenblicken, die er auf einem Berliner Hinterhof, im Kaufhaus, in der U-Bahn, im Supermarkt oder im Café macht und schlicht beschreibt. Schon früh sind die Gedichte so angelegt, dass sie vom Besonderen einer Episode ins Allgemeine einer übergeordneten Thematik ausstrahlen, wie das 1972 entstandene Gedicht …mit Raffael geschrieben veranschaulicht: Autobiographisches, Kunsthistorisches, Erotisches, Religiöses und Sozialkritisches verschmelzen darin und münden in ein Todesmotiv, das am Ende doch mit spielerischer Leichtigkeit des Sinnlichen überwunden wird und in ein verklärend-tröstendes Bild übergeht. Schon hier klingen tragende Motive an wie das Licht und das Blau, die Madonnenfigur, schließlich die Frau als Mutter (Gottes), als Erlösergestalt und Verführerin. In dem frühesten Gedicht dieser Auswahl, Hausnummer 52 wird die Mutter zur Retterin des Kindes, das sie aus der traumatischen Erfahrung des Eingesperrt-Seins erlöst und vor dem strafenden Vater schützt. In Samstag/Glocken klingt die Erinnerung an den elterlichen Hof an, an die in der ‚hohen Zeit‘ der Kindheit empfundene Ordnung der Dinge in ihrer Ruhe und Geborgenheit, Sicherheit auch, indem sie einem verlässlichen Rhythmus folgt, der sich Woche für Woche und im Wechsel der Jahreszeiten wiederholt. Im Gedicht werden die alten Bilder noch einmal evoziert und transformiert in eine Ahnung von ‚Ewiger Wiederkehr‘. Damit tritt ein Motiv auf den Plan, das sich aus Köhlers Affinität für die Philosophie Nietzsches entwickelt hat und sich wie ein Ariadnefaden durch sein dichterisches wie künstlerisches Werk hindurchzieht. Sex, Gewalt, Angst und Einsamkeit treten als Motive bald hinzu; sie brechen die Illusion heiler Welten herunter auf profane Wirklichkeit: Beobachtungen und Begebenheiten des Arbeits- und Ehealltags, des urbanen Lebens. Eindringt gerät zur Metapher einer gewaltvollen Penetration, obwohl das Gedicht nichts als das Bild eines die Erde aufreißenden Straßenbauarbeiters beschreibt, beobachtet von einem teilnahmslosen Voyeur am Gartenzaun, dem „der Stein der Erde“, Symbol des penetrierten Objekts, vollkommen egal zu sein scheint. Er begreift nichts, wie die meisten Männerfiguren bei Köhler nicht begreifen wollen oder können. So wird Eindringt zum subtil provozierenden, entlarvenden Bild, das schon die beginnenden Diskurse der Emanzipations- und der Ökologiebewegung der 1970er Jahre anklingen lässt. Diese beiden für das Jahrzehnt nach 1968 bedeutenden gesellschaftlichen Themen werden als separate Stränge in den Gedichten Köhlers weiterverfolgt. In Film schildert das lyrische Ich aus der Distanz das innere Ringen einer Frau, die Zweifel an ihrer Unterwürfigkeitsrolle hegt und neue Maßstäbe für ‚richtig‘ und ‚falsch‘ entwickelt, aus dem Moment heraus, aus dem eines Tages ein emanzipatorisches Verhalten erwachsen könnte.
Im Verlauf der Jahre werden die anfangs aus Alltagsbeobachtungen entwickelten, gesellschafts- und zeitkritischen Themen abstrakter, philosophischer, reflexiver. Der Blick des lyrischen Ich richtet sich nach innen: Hommagen an Künstler und Schriftsteller, der kreative Prozess, Glücks- und Trauererfahrungen, Einsamkeit, Vergänglichkeit und Erneuerung, Hoffnung und Verzweiflung, Spiel, Träume, Angst, die Kälte der Leere und der Abgrund des Nichts, das Sein an sich. Auch wenn der Grundton ein gesellschaftkritisch-distanzierter bleibt, nimmt Köhler nur indirekt Stellung zu Aktuellem, wie das Gedicht Corona III zeigt. In Der MENSCH hat die Wahl wird ein Endzeitszenario entfaltet, dessen Eintreten nur durch die Besinnung auf Vernunft und Verantwortung verhindert werden kann. Weniger in Gedichten, eher in reflexiven Texten verhandelt er so konkrete Anlässe wie Ökologiebewegung oder Klimakatastrophe. Die Gedichte sind in anderen Regionen angesiedelt. Immer wieder ist es das inkommensurable Thema der Zeit und Zeiterfahrung, das im Moment der Selbstverortung das lyrische Ich umtreibt und die Trauer angesichts der Vergänglichkeit allen Lebens aufscheinen lässt, um sie im nächsten Gedanken aber zu transformieren in eine Vision der Selbstgewissheit, und des Glaubens an die Dauer der eigenen Existenz im Einklang mit sich und dem kosmischen Sein.
Zu den bildkünstlerischen Arbeiten
Die Collagen nehmen bis weit in die 1990er Jahre hinein einen großen Raum im Werk Köhlers ein. Sie entstehen fast täglich parallel zur Gedichtproduktion am Schreibtisch. Ihr Material speist sich aus einem riesigen Fundus von Gefundenem und Gesammeltem wie Abfall aller Art: Folie, Plastik- und Metallteile, getrocknete Blumen, Obstschalen und Zweige, Haare, Holz- und Metallwolle, Amulette, zerbrochene Puppen, Watte, Knöpfe, Bindfaden, Spitze, Stoff- und Essensreste, Pillen und Blister, Papiertaschentücher, Kartons und Verpackungen, Illustrierten-, Amateur- und Werbefotos, historische und eigene Fotografien, Zeitungstexte und Fotokopien. Aus den anfänglich chaotisch wirkenden Akkumulationen bilden sich nach und nach Kompositionsprinzipien, Gegensätze und Einzelthemen heraus, die mit den gesellschaftlichen Diskursen und dem Zeitgeist korrespondieren. Dabei kommen, wie auch in den Gedichten, das veränderte Frauenbild und die Infragestellung kleinbürgerlicher Formen der Existenz und des Zusammenlebens in der Ehe, die Problematisierung der Rituale und Geschlechterrollen tabulos und konfrontativ zur Sprache und ins Bild […]. So kommt diesen provokativen Werken ein starker Appellcharakter zu, das von der kapitalistischen Verwertungsindustrie gefestigte, zum Objekt degradierte Frauenbild zu hinterfragen, das auch in heutigen Zeiten angesichts der ‚me too‘-Kampagne offenbar noch lange nicht aus der Welt geschafft ist, sondern, im Gegenteil, durch den allgegenwärtig grassierenden Populismus in penetranter Wiederkehr begriffen ist. […]
Die Objektboxen sind komplexe Assemblagen, als aufstellbare oder Wandobjekte dreidimensional angelegt. Statt verderbliche Ware enthalten sie nun eine Ansammlung von Dingen, die in ihrer Summe Kunst sind. Aus dem Entsorgt-Werden wird ein Bewahrt-Werden. Die Kulturgeschichte von Verpackungsmaterialien wie diesen Kisten ist ein eigenes Thema der Alltagsästhetik. Waren früher exotische Südfrüchte noch in aufwändig und schön gestaltete, hauchdünne Papiere eingehüllt und wurde frisches Obst in farbigen Packpapiertüten dem Kunden überreicht, so ist diese ansprechende Form der Verpackungsästhetik durch die inflationäre, klima- und umweltschädigende Verbreitung der Plastiktüte verlorengegangen. Die Papp-Box ist ökologisch, praktisch, umweltfreundlich und trotz ihres minimalen Dekors ein Zeugnis von Gebrauchsdesign, das über eine schlichte ‚Kiste‘ weit hinausgeht: insgesamt Eigenschaften, die sie für Köhler zu einem idealen Trägermaterial und attraktiven künstlerischen Medium machen.
„Verarbeite, was da ist“, lautet Köhlers Arbeitsmotto. Das ist nicht weniger als ein in Jahrzehnten gesammelter Mikrokosmos der Alltagsrealität, in dem sich der Makrokosmos von Geschichte, Gesellschaft, Natur, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft ‚in nuce‘ spiegelt. Aus dem Chaos erwächst strukturierte Kunst: Scheinbar Unzusammenhängendes wird, wie bei den Surrealisten, neu zusammengefügt. Scheinbar Unpassendes geht miteinander eine Liaison ein. Scheinbar Wertloses wird werthaltig, zum sinnerhellenden Bedeutungsträger, Wertvolles wird Müll, eine verkehrte Welt, in der das Prinzip der Akkumulation nun auf den Kopf gestellt, dem ewigen Bewegungsgesetz des ‚weiter & weiter‘ entzogen wird. Das aber illustriert nichts anderes als die blankgescheuerten Treibriemen der Verwertungsmaschinerie eines globalen turbokapitalistischen Prinzips, das bisher keine Grenzen kannte, jetzt aber an Grenzen stößt. Die Maschine hat Rost angesetzt – spätestens in Corona-Zeiten. Rostige Werkzeuge, Drähte und Stümpfe von Stahlbetondraht ragen aus den ruinösen Ensembles hervor wie Mahnzeichen der Industriegesellschaft, gebettet auf Stahlwolle, unterlegt mit schimmernder Aluminiumfolie, überdeckt mit Plastikfolie, die nur noch zum Schein die darunter verborgenen Dinge für die Zukunft frisch hält. Aber für das in ihnen inkorporierte Prinzip der Wegwerf-Warenwelt, der Über- und Billigproduktion als Ausdruck eines natur-, kultur- und menschenverachtenden, ausbeuterischen Denkens und Wirtschaftens gibt es keine Zukunft. Was das Kunstwerk im Hier und Jetzt abbildet und uns vor Augen führt, ist mit fortschreitender Zeit dem Verfall ebenso preisgegeben wie alles andere, das heute noch als bewahrenswert erscheint. […]
Entsorgtes, Wertloses, Zerbrochenes, Unscheinbares, Verrottetes, Verrostetes, Vertrocknetes, Verblichenes, Vergessenes sind Eigenschaften von Materialien, die Tod und Vergänglichkeit symbolisieren, im Alltagsleben aber weitgehend tabuisiert oder gar eliminiert sind. Nur die Kunst, so Köhler, könne uns an die Vergänglichkeit allen Seins erinnern; nicht umsonst sagt man ihr die Eigenschaft nach, sie bewahre immer das, was vom Verschwinden bedroht ist. So kommt seinen Werken, prinzipiell aber jedem Kunstwerk, die Funktion eines ‚Memento‘ zu. Hier tritt Mnemosyne auf den Plan, im griechischen Mythos die Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen. Sie bewahrt in den Künsten den „Leidschatz der Menschen“ (Aby Warburg), um sie vor törichter Wiederholung zu schützen. So werden die bildkünstlerischen Werke Köhlers auch zu stillen Alarmanlagen für ein alltägliches Memento, zu Kühlschränken der Zivilisation, zu Särgen einer Zeit, die sich vor der bohrenden Frage künftiger Generationen, „how dare you!?“ (Greta Thunberg) eines Tages zu verantworten haben wird. Aber es gibt sie dennoch, die Horizonte positiver Gegenwelten: Mythologische, religiöse, kunsthistorische, literarische und philosophische Reminiszenzen, Naturfragmente, Symbole der Erneuerung, flüchtige Idyllen, Glücksmomente, Kindheitserinnerungen, Träume, Reflexionen und Wortspiele blitzen zwischen all dem akkumulierten Chaos wie Splitter aus anderen Welten auf, innere Projektionen auch, ferne Hoffnungsträger, die noch da sind, aber überschwemmt werden durch die Gewalt der Flut unendlich strömender Bilder, gemischt mit den stillen Katastrophen des Alltags, überdeckt von schrillen Werbeslogans und drastischen Schlagzeilen des Medienapparats und seiner digitalen Multiplikationen. […]
Literarische, kunsthistorische und philosophische Bezüge
Auf der Cover-Collage Vom Sein des Scheins sind zwischen ausgebrannten Teelichtern Fotos von Kafka, Nietzsche, Zweig, Benn und Brinkmann appliziert und durch Zitatmontagen ergänzt. Sie haben ihn besonders fasziniert, teils in Haltung, teils in Stil und Ausdruck geprägt, feine Spuren und bisweilen unmerkliche Anspielungen in seiner Lyrik hinterlassen. Aber zwischen der […] expressionistischen Radikalität der Moderne bei Benn und der atemlos nihilistischen Dichtung Brinkmanns klafft ein unüberbrückbarer Abgrund, der nicht geleugnet werden kann. Wenn auch nicht explizit erwähnt, lassen sich über einzelne Motive Köhlers, die auf kosmisch-mystische Symbole deuten, Parallelen zur expressionistischen Dichtung von August Stramm (1874 – 1915) erkennen, etwa wenn er mit wenigen Worten elementarer Ausdruckskraft das individuelle mit dem kosmischen Sein verbindet […] Bei allem Trennenden und Unvergleichlichen zwischen Köhler, Benn und Brinkmann, gibt es dennoch einen gemeinsamen Bezugspunkt: die Philosophie Friedrich Nietzsches, der auch als brillanter Schriftsteller und wegweisender Künstlerphilosoph tiefe und bleibende Furchen in die Geschichte der Dichtung, der Literatur und der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts gezogen hat und mit seinem Plädoyer für eine neue Lebenskunst, seiner ‚Artistenmetaphysik‘, der Verkündung der Heraufkunft des europäischen Nihilismus und der notwendigen Umwertung aller Werte eine explosive Rezeption entfaltete, die bis ins 21. Jahrhundert nachhallt.
[…]
Die Erfahrung der Aura wie des Heiligen haben Wurzeln im Magischen, in urzeitlichen Ritualen, die im kollektiven und kulturellen Gedächtnis noch unterschwellig präsent und gelegentlich abrufbar sind. So verwundert es nicht, dass Köhlers Objektboxen ikonographisch, aber auch in Komposition und Wirkung an Zeugnisse religiöser Volkskunst des Mittelalters, der Renaissance und des Barock erinnern, insbesondere sogenannte Klosterarbeiten, die kostbare transportable Altäre, verzierte Reliquienschreine, aufwändig bemalte Holzkästen mit ‚Fatschenkind‘-Figuren oder kleine, reich dekorierte Altarboxen für den Hausgebrauch oder Reisen fertigten. Auch ein Reliquienschrein ist in gewisser Weise eine Objektbox, indem er gesammelte Fragmente (z.B. Knochen eines Heiligen) enthält, die sich durch fromme Andacht des Gläubigen in seiner inneren Vorstellung zu einem ganzheitlichen Bild formen, das der Anbetung dient. Geht es in den religiösen Schreinen um die Verehrung von Heiligen oder Märtyrern, so stellen die Objektboxen Köhlers gerade das nicht Wertgeschätzte zur Schau, das erst durch seine ästhetische Überhöhung auratisiert und anschauungswürdig wird. Hier scheinen fundamentale Parallelen zwischen dem künstlerischen und dem religiösen Objekt auf. Vermutlich hat Alfons Köhler in seiner fränkischen Heimat mit diesen religiösen Gebrauchs- und Schauobjekten frühe Bekanntschaft gemacht, so dass sie in späteren Jahren intuitiv in seine Gestaltungskonzeptionen Eingang gefunden haben.
Aus der Kunst des 20. Jahrhunderts nimmt Köhler verschiedene Anleihen auf, die sich vor allem bei Marcel Duchamp, im Dadaismus, Surrealismus und in der Fluxus-Kunst verorten lassen. Ihnen allen ist die Suche nach einer neuen Verbindung von Kunst und Sprache, Bild und Text gemeinsam, deren in der Neuzeit eingetretene Trennung die Avantgarden im Hinblick auf ihre postulierte ‚Verschmelzung von Kunst und Leben‘ nicht länger hinzunehmen bereit waren. Auch Duchamp arbeitete mit Vorformen der Objektbox, die Köhler inspiriert haben könnten […]
Verpackungen aller Art, egal ob Box, Kiste oder Papier waren und sind für Künstler seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein gängiges Arbeits- und Trägermaterial: Joseph Beuys experimentierte in Collagen und Zeichnungen mit einfachen, zum spitzen Trichter gewickelten Papiertüten in farblich abgestuften Grautönen mit animierenden Aufschriften „Esst mehr Obst!“, die noch von der Einfachheit der Produktverpackung in der Nachkriegszeit zeugten, bevor die Warenform mit allen Raffinessen von der Warenästhetik überformt wurde. Eine Obsttüte war eine Obsttüte; ihre Herstellung und Entsorgung schufen keine Umwelt- und Klimaprobleme, wie es heute etwa durch Aluminium- und Plastikfolie, Tablettenblister und Tupperware geschieht. Auch diese industriell gefertigten Materialien zum Schutz vergänglicher Waren nutzt Alfons Köhler, wobei er ihre spielzeugbunt daherkommende Farbigkeit (Kinderspiele I und II) oder ihren silbrigen oder transparenten, schimmernden, welligen, faltigen oder zerknitterten Effekt kalkuliert einsetzt (NIKE). Später hat auch Thomas Hirschhorn diese ‚armen‘ Materialien für sich entdeckt; er stellt seine Collagen, Reliefs, Wandkarten, Objektassemblagen und raumfüllende Installationen aus massenhaften Ansammlungen alltäglicher und billiger Materialien her, die für jeden zugänglich und im Baumarkt zu erwerben sind. Sie dienen ihm zur Hervorbringung von Metaphern einer uferlos wuchernden, kapitalistisch geprägten Dingwelt, die auf die Frage nach Sinn und Möglichkeit der Kunst verweist, einen Ausweg aufzuzeigen.
[…]
Die Gedichte Alfons Köhlers vermögen es, vom Einfachen einer Wahrnehmung zum Komplexen einer Idee vorzustoßen, vom „Nu des gelebten Augenblicks“ ins „allerfüllende Alles“ den Bogen zu spannen. Darin stehen sie der Philosophie Ernst Blochs nahe, der in seinem Hauptwerk Prinzip Hoffnung, seine Lehre vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ anhand des Bildes vom Pulsschlag entfaltet hat […] Für Köhler enthält jeder Augenblick zugleich das gesamte Sein, in ihm fühlt er sich aufgehoben und getragen, in ihm fallen Sein und Zeit in eins zusammen. „Ich selbst sehe mich tiefer im Sein verhaftet als in der Zeit, d.h., ich fühle mich mehr als Beobachter der Zeit als ihr ausgeliefert zu sein. Das Phänomen Zeit ist für mich eine vorübergehende Erscheinung. Ich nehme sie zwar wahr, bin sie aber nicht“ (A.K.). Hoffnung‘ versteht Köhler nicht mehr im neomarxistischen Sinne Blochs, denn die gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen der Generation nach 1968 haben eine desillusionierte Sicht etabliert, die sich nun wie Mehltau auf den einst gefeierten wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt legt und berechtigte Skepsis an der Zivilisation nährt. Diese Skepsis, bisweilen als selbstzermürbender Zweifel und rotierendes Fragen in Köhlers Gedichten zu spüren, erinnert an den von Cicero Sokrates zugeschriebenen philosophischen Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Er wirkt wie ein innerer Motor der Selbstüberwindung, zu der sich das Individuum immer wieder neu durchringen muss, um sein existenzialistisches ‚Geworfensein in die Welt‘ verkraften und überleben zu können. Glaubte Bloch noch an das Grundprinzip allen Lebens, sich mittels Hoffnung zum Besseren, Höheren, zur Überwindung des Mangels hin zu orientieren, so erkennt Köhler darin nur das ewige Bewegungsgesetz des Kapitalismus, jenes ‚weiter und weiter‘ […], das zu einer gefräßigen Haltung des ‚immer mehr‘ führt. Diese zivilisatorische ‚Adipositas‘ ist die Krankheit unserer Zeit und das eklatante Gegenbild zum Prinzip der Genügsamkeit durch Verzicht auf materielle Güter, wie es der Philosoph Diogenes lehrte. Es führt unaufhaltsam zur Entfremdung des Menschen, zur Zerstörung von Natur und Lebensraum, ja es birgt sogar die Gefahr in sich, dass der Mensch sich im ‚weiter und weiter‘ selbst auslöscht und den Planeten Erde unbewohnbar macht. Ist es noch 5 vor 12 oder nicht vielleicht schon später? […] Dennoch finden sich Spuren von Hoffnung und Zuversicht in Köhlers Gedichten wie in den künstlerischen Arbeiten, wenn in ihnen Fragmente von Dichtung, Kunst(geschichte), Religion, Philosophie und Naturerfahrung aufscheinen, vor allem Erinnerungen an Heimat, Elternhaus und Aufgehoben-Sein in der Kindheit: „Heimat ist, was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ (Ernst Bloch). […]
Der Leser mag irritiert sein, wenn Adornos geflügeltes Wort „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Minima Moralia) seinem Sinn nach von Köhler negiert und in eine bejahende Haltung transformiert wird […]. Mit Nietzsche ist Köhler allerdings der Auffassung, dass auch das für falsch Erachtete Ausdruck des großen Lebensstroms der Natur, der Materie und ihrer Gesetzmäßigkeiten ist, denen auch der Mensch unterworfen ist und in die er nur bedingt, im Besitz einer geistigen Eigenschaft namens Vernunft, eingreifen kann. Ein bedingungsloses Urvertrauen, bedingungslose Liebe zum Dasein, sprechen daraus. Denn gerade in der Akzeptanz des Guten und Schlechten, Gelungenen und Misslungenen, der Höhen und Tiefen des Lebens und der eigenen Existenz im Großen wie im Kleinen, liegt der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Lebenskunst im Sinne Nietzsches bedeuten könnte […]. „Sei, was du bist! // (mehr nicht)“: Erkenne und spiele deine Form, lass sie scheinen, drehe dich in ihrem Rhythmus, spüre das Göttliche und Ganzheitliche in dir, das für jeden da ist und also auch für dich. Erkenne deinen Reichtum (so reich), der nicht äußerer, materieller Natur ist, sondern ein innerer, geistig unermesslicher, der jedem Menschen potenziell zu eigen ist, sofern er ihn erkennt, annimmt und lebt. „Sei, was du bist“ und „Bleibe bei dir“, lautet die übergeordnete Botschaft des Dichters und Künstlers Alfons Köhler.
_____________________________________________________________________________________________________________
Die Zitate sind dem folgenden Text entnommen:
Barbara Straka, „Die Sprache reicht nicht aus, um zu verstehen“. Zum poetischen und künstlerischen Werk von Alfons Köhler, in: dies. (Hg.): Alfons Köhler, Vom Sein des Scheins. Gedichte, Collagen und Assemblagen 1970 – 2020, Potsdam 2020, S. 148 – 161
© Barbara Straka, 2020
Jede Vervielfältigung als Wiederabdruck, Kopie oder in digitaler Form, auch in Auszügen, bedarf der Genehmigung der Verfasserin.