Die Sonntage mit meiner Mutter
Ihre Lektüre ist das SONNTAGSBLATT.
Sie liest das Regionale wie die Bibel, Wort
für Wort und an bestimmten Stellen geht sie
näher ran …, als ob es wichtig wär; sie ist im
Jetzt (…). Und wenn sie traurig dabei ist,
holt sie die alten Fotos aus dem Schrank
und geht durch die Geschichte, Bild für Bild.
„Jetzt wein doch nicht“, sag ich, „ich wein doch
nicht, schau hier: Dein Großvater, erkennst Du
Dich? Du wirst ihm immer ähnlicher“, sagt sie
und geht nah ran: „Er war ein schöner, stolzer
Mann“. Ich sah mich nicht, er hatte einen
Schnauzer, nicht wie ich, ich war weit weg
von diesem Spiel … / Jetzt bin ich selbst in
ihrem Alter, hab einen Schnauzer, lese
Zeitung, schau mir Fotos an und seh den
Großvater als „stolzen Mann“, ja, ich erinn’re
mich an viele Sonntage mit ihr: Sie kocht …,
ich krieche unter ihre Schürze, rieche, lache,
weine / (tief berührt!); sie ist jetzt nicht mehr hier.
1991 (Sterbejahr; in Erinnerung)
Des Dichters Sprache
Jahrzehntelang verbarg sich Gottfried Benn
in einer dunklen Wohnung in Berlin, und in der
Kneipe um die Ecke trank er gern ein kühles
Bier, sieht, was er sieht, zitiert den Schein, den
noch nicht Mensch gewordenen … und nicht
mehr Tier. Gehirn und Krisen, „Untergang“ –
ach, Mensch! Wo bist du nur? Du bist nicht
hier!! Die Sprechstunden war’n kurz, der Dienst
am Leben eine Qual, der Rest war Kunst, so
wie er Kunst verstand … „Denk nicht“, dort
findest du dich nicht, dort gibt es nichts, egal,
wohin du gehst, wo du auch bist, wohin du
fliehst, es nützt dir nichts, du nimmst dich mit,
da fliegen „Pfeile, es ist kalt, tiefblau, da gelten
nur die Strahlen, gelten nur die höchsten Sphären,
und das Menschliche zählt nicht dazu“. Was ist,
fließt …, Energie …, der Körper ist das Maß –
„ist dunkle süße Onanie“. Freudig erregt zeigt
sich im stillen Werden, nachts, was er in vielen
Jahren rhythmisch, lyrisch auf die kleinen Zettel
schrieb, wie dies: „O Nacht! Ich muß, ich muß
im Überschwange, noch einmal vor’m Vergängnis
blüh’n“ (…). Er tanzt den Schein vom Schein,
was blau ist, ist auch grau, was blüht, verblüht.
1990 / 2020
Manches fällt „tot“
Der Wind nimmt mit,
was leicht ist, treibt es
vor sich her, verliert es
oder bläst es hoch; was
in die Höhe kommt,
bleibt nicht sehr lange
oben! Manches fällt
als Samen, manches
blüht im Wind …,
manches fällt „tot“.
Und wo es „tot“ fällt,
ist’s zuviel und liegt
(verachtet von dem
„Rest der Welt“) herum.
Eine Maschine kommt
mit schwarzem Schlauch
und langem Rohr und
saugt es auf. Sie zerrt,
was „tot“ bestimmt ist,
laut in sich hinein,
dann fährt sie fort …
(kein Todesschrei!).
Was flüssig war, wird
fest & umgekehrt. Der
Tag heißt nicht mehr
Tag, die Nacht nicht
Nacht. Was einmal
Sprache war, hört auf.
1999
Angst
Wenn ich die Kälte
selbst wäre, wäre
ich wirklich groß.
Wenn ich
sagen würde: Ich
bin die Kälte selbst,
wäre das ein Spiel.
Alles, was ist,
wäre ein Spiel.
Spielte ich die
Welt, die Welt
wäre ein Spiel.
Spielte ich die Angst,
die Angst wäre ein
Spiel. Die Angst
vor der Angst
wäre fort. Die Angst
vor der Angst wäre
ein angstloser
Begriff. Alle
Ebenen, die körperlich
sind und zum Gedanken
werden, streben zur
Kunst. Der
Himmel ist blau.
Der Schatten ist lang.
Der Schatten legt sich
dunkel auf die Wand.
1999